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Urteil
Keine Versorgung mit einem Therapietandem durch die Krankenversicherung bei fehlender vertragsärztlichen Verordnung

Gericht:

LSG Thüringen 6. Senat


Aktenzeichen:

L 6 KR 1635/14 B


Urteil vom:

02.05.2017


Tenor:

Die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 14. November 2014 wird zurückgewiesen.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

Gründe:

I.
Zwischen den Beteiligten ist im Hauptsacheverfahren streitig, ob die Beklagte die Klägerin mit einem Therapietandem zu versorgen hat.

Die 2003 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert und leidet an mittelgradiger Intelligenzminderung, tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und symptomatischer Epilepsie. Ausweislich des Pflegegutachtens der Pflegekasse der Beklagten vom 5. Oktober 2012 liegt eine pränatale Hirnschädigung vor. Aktuell erhält sie Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II.

Unter Übergabe eines Angebots des Reha R. Centrums in F. vom 31. Mai 2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten im Herbst 2013 die Versorgung mit einem Therapietandem "Fun2 Go". Laut Angebot sollte das Tandem 9.268,08 Euro kosten. Mit Bescheid vom 11. Oktober 2013 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, den sie im Wesentlichen damit begründete, dass es ihr nicht unbedingt um die soziale Eingliederung in eine Gruppe gehe. Vielmehr fahre ihre Familie gerne Fahrrad und an diesen Ausflügen könne sie wegen ihrer Behinderung nicht teilnehmen. Aufgrund ihrer Behinderung sei sie nicht in der Lage, selbst Fahrrad zu fahren. Mit Widerspruchsbescheid vom 27. März 2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 2. Mai 2014 vor dem Sozialgericht Gotha (SG) Klage erhoben und zugleich um die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) nachgesucht. Zur Begründung hat sie vorgetragen, dass das begehrte Tandem der Integration in die Gruppe Gleichaltriger und zur Unterstützung und Förderung der krankengymnastischen und physiotherapeutischen Behandlung dienen solle. Derzeit sei sie in die Gruppe Gleichaltriger nicht integriert. Sie lebe zusammen mit ihrem Bruder. Die Familie sei fahrradbegeistert und würde gerne Familien-Fahrradausflüge unternehmen, welche letztendlich dann auch mit anderen Familien und deren Kindern stattfänden. Sie sei aber nicht in der Lage, ein handelsübliches Fahrrad zu fahren. Mit dem hier begehrten Hilfsmittel wäre sie in der Lage, an solchen Ausflügen teilzunehmen, um dann auch Kontakt mit anderen Kindern zu haben. Dass bei solchen Fahrradtouren ggf. auch Erwachsene anwesend seien, könne den Integrationszweck nicht verhindern. Zwar sei richtig, dass das Bundessozialgericht (BSG) dies in einigen Entscheidungen als obiter dictum ausgeführt habe. Warum das so sein solle, werde allerdings in keiner der Entscheidungen des BSG ausgeführt. Das begehrte Tandem sei auch kein Gegenstand des täglichen Lebens, da es bauartbedingt nicht für Jedermann geeignet sei. Aufgrund der plötzlich auftretenden Epilepsie sei für sie die Nutzung eines herkömmlichen Fahrrades nicht geeignet. Mit dem hier begehrten Hilfsmittel werde sichergestellt, dass sie bei einer plötzlich auftretenden Epilepsie nicht umfalle. Darüber hinaus sei das Hilfsmittel geeignet, im Rahmen eines ärztlichen Therapieplans eingesetzt zu werden und andere zusätzliche therapeutische Maßnahmen zu ersparen. Schließlich ergebe sich ein Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit dem begehrten Tandem auch aus der Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Dem ist die Beklagte entgegengetreten und hat geltend gemacht, dass letztendlich auch der Bevollmächtigte der Klägerin diejenigen therapeutischen Maßnahmen, die durch das nur wenige Tage im Jahr nutzbare Tandem konkret vermieden werden könnten, nicht nenne. Im Gegensatz zu den Therapien, die seitens der Beklagten selbstverständlich getragen würden, könne das begehrte Tandem keinerlei kontinuierliche Therapieaktivität sicherstellen, weil es allenfalls an den Wochenenden genutzt werde. Abgesehen davon würden Radtouren üblicherweise nicht bei schlechtem Wetter und im Winter durchgeführt, was den Therapiegedanken ad absurdum führe.

Das SG hat den Antrag auf Gewährung von PKH mit Beschluss vom 14. November 2014 abgelehnt und zur Begründung auf die Gründe des Widerspruchsbescheids verwiesen. Mit Gerichtsbescheid vom gleichen Tag hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin sei geistig behindert, so dass die Beklagte grundsätzlich Leistungen des sogenannten mittelbaren Behinderungsausgleiches schulde, d.h. das Grundbedürfnis auf Fortbewegung sei sicherzustellen. Die Klägerin sei bereits mit einem Rollstuhl versorgt, den sie laut Gutachten des MDK infolge ihrer erheblichen kognitiven Defizite und Verhaltensauffälligkeiten nicht selbstständig bedienen könne, weshalb eine Begleitperson erforderlich sei. Das Pflegegutachten der Pflegekasse der Beklagten vom 5. Oktober 2012 führe aus, dass die Klägerin bei geistiger Behinderung und festgestellten Auffälligkeiten regelmäßig und auf Dauer der Beaufsichtigung und Betreuung bedürfe. Die Klägerin verkenne gefährliche Situationen, könne mit gefährlichen Gegenständen oder Substanzen nicht sachgemäß umgehen, zeige im situativen Kontext inadäquates Verhalten und sei infolge Störungen der Hirnfunktion nicht in der Lage, Probleme im sozialen Alltag zu bewältigen. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG bestehe keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zur Ermöglichung von Freizeitbeschäftigung. Vorliegend werde das Therapietandem nach Angaben des Stiefvaters der Klägerin ausschließlich zur Durchführung von Freizeitbeschäftigungen benötigt. Hiervon abweichend bestehe eine Leistungspflicht der GKV nur dann, wenn zugleich andere Ziele verfolgt würden, nämlich wenn es um die Teilnahme an Aktivitäten anderer Jugendlicher gehe und damit eine Integration in Gruppen gleichaltriger ermöglicht werde. Insofern handele es sich nämlich um ein anzuerkennendes Grundbedürfnis Jugendlicher. Ein solcher Ausnahmefall sei hier aber nicht gegeben, da nach der Rechtsprechung des BSG ein Tandem generell zur Integration in eine Gruppe Jugendlicher nicht geeignet sei. Die Anwesenheit einer erwachsenen Begleitperson, die vorliegend laut Pflegegutachten dauerhaft erforderlich sei, sei gerade in einer Gruppe Jugendlicher nicht erwünscht. Soweit die Klägerin zumindest hilfsweise einen Antrag gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) angekündigt habe, sei diesem nicht nachzugehen gewesen, denn es sei überhaupt kein Arzt benannt worden. Schließlich sei das hier streitgegenständliche Therapietandem nicht durch einen Vertragsarzt verordnet worden.

Gegen den seinem Bevollmächtigten am 26. November 2014 zugestellten PKH-Beschluss hat die Klägerin am 8. Dezember 2014 Beschwerde eingelegt und zur Begründung vorgetragen, es sei verspätet, über die Prozesskostenhilfe zu entscheiden, wenn bereits in der Sache entschieden worden sei. Mit der Berufung (Az.: L 6 KR 1542/14) hat sie vorgetragen, das SG habe keine Sachermittlungen durchgeführt. Auch sei dessen Rechtsauffassung nicht zu folgen. Allein die Auffassung, dass behinderte Menschen in die Gruppe Nichtbehinderter nicht integriert werden könnten, sei falsch und verstoße im Übrigen auch gegen die UN-Konvention. Letztlich stehe ihr ein Anspruch auch noch aus dem Grund der notwendigen Krankenbehandlung zu. Das SG habe auch diesbezüglich keine Sachermittlungen angestellt. So habe es unterlassen, zumindest den die Verordnung ausstellenden Arzt anzuschreiben und nach dem Therapieplan zu fragen. Auf entsprechende Nachfrage des Senats im Rahmen des Berufungsverfahrens hat die Klägerin mitgeteilt, dass es für das begehrte Hilfsmittel keine ärztliche Verordnung gebe und das Tandem noch nicht selbst angeschafft wurde.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 14. November 2014 aufzuheben und ihr unter Beiordnung von Rechtsanwalt U. R., , D., Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren zu bewilligen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag. Sie ist der Auffassung, dass der PKH-Antrag der Klägerin zu Recht abgelehnt worden sein dürfte und verweist zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids des SG.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Beschwerdeakte sowie der beigezogenen Prozessakte des SG (Az.: S 38 KR 2183/14) und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidung war.

Rechtsweg:

SG Gotha, Beschluss vom 14.11.2014 - S 38 KR 2183/14

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

II.
Die Beschwerde ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Bewilligung von PKH für das Verfahren vor dem SG.

Nach § 73 a Abs. 1 SGG des i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Eine hinreichende Erfolgsaussicht liegt vor, wenn bei summarischer Prüfung eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung der Klägerin zum Erfolg führen kann. Sie bietet dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht den Standpunkt der Klägerin nach deren Sachdarstellung und den vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält, in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist und deshalb bei summarischer Prüfung für den Eintritt des angestrebten Erfolgs eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht. Dabei dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten jedoch nicht überspannt werden. Eine beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von einer schwierigen, bisher ungeklärten Rechtsfrage abhängt (vgl. BVerfGE 81, Seite 347) oder wenn von Amts wegen weitere Ermittlungen durchzuführen sind, bevor die streiterheblichen Fragen abschließend beantwortet werden können, und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Ermittlungen mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers ausgehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Februar 2001 - Az.: 1 BvR 1450/00, nach juris).

Nachdem sich aus der Gerichts- und Behördenakte sowie dem Vortrag der Klägerin ergebenden Sachstand war bei summarischer Überprüfung ein Klageerfolg im Verfahren der ersten Instanz nicht wahrscheinlich und erforderte auch keine weiteren Ermittlungen des SG.

So fehlt es im Falle der Klägerin bereits an einer vertragsärztlichen Verordnung, die nach § 33 Abs. 5a Satz 1 SGB V (in der ab 30. Oktober 2012 geltenden Fassung) Voraussetzung für einen Leistungsantrag auf die Gewährung von Hilfsmitteln darstellt, soweit es sich - wie vorliegend - um eine erneute Therapieentscheidung handelt (vgl. Nolte in Kasseler Kommentar, Stand Juni 2015, Rdnr. 64a zu § 33). Die Klägerin war bislang lediglich mit einem Rollstuhl versorgt; bei dem begehrten Therapietandem handelt es sich deshalb um eine erneute, weitere Therapieentscheidung.

Auch im Übrigen liegen die Voraussetzungen für eine Versorgung mit dem Therapietandem nicht vor. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen in entsprechender Anwendung des § 153 Abs. 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids des SG vom 14. November 2014 Bezug genommen, denen der Senat folgt.

Hinsichtlich des Beschwerdevorbringens der Klägerin verweist der Senat noch auf Folgendes: Da die Klägerin, wie oben bereits ausgeführt, keine ärztliche Verordnung für das begehrte Therapietandem eingeholt hat, hat es für das SG schon aus diesem Grunde keine Veranlassung gegeben, weitere Sachverhaltsermittlungen unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Hilfsmittels zur Krankenbehandlung anzustellen. Weitere Sachverhaltsermittlungen waren auch im Hinblick auf die mit der ursprünglichen Antragstellung bezweckte Ermöglichung der Teilnahme der Klägerin an familiären Radausflügen an Wochenenden nicht angezeigt. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. z.B. Urteil vom 21. März 2013 - Az.: B 3 KR 3/12 R, nach juris), dass die GKV für solcherart Freizeitgestaltung "außerhalb des Nahbereichs" nicht aufzukommen hat. Ein Eingriff der §§ 2, 33 SGB V und der sich hieraus ergebenden Voraussetzungen für die Versorgung eines Versicherten mit einem Hilfsmittel durch die GKV in den Schutzbereich des Art. 6 GG ist diesbezüglich für den Senat nicht ersichtlich.

Aber auch soweit mit der Klage- und Beschwerde- bzw. Berufungsbegründung nunmehr auf das Bedürfnis der Integration in den Kreis Gleichaltriger abgestellt wird, ist mit dem SG ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem begehrten Therapietandem zu verneinen. Auch wenn das BSG dies in mehreren Entscheidungen so entschieden hat, ohne eine weitergehende Begründung dafür zugeben, teilt der Senat diese Einschätzung des BSG und hält sie für nachvollziehbar. Eine Eingliederung in den Kreis der Gleichaltrigen wird durch eine ständige Anwesenheit eines Erwachsenen, der aufgrund der Behinderung der Klägerin das Therapietandem fortbewegt und lenkt, schwerlich möglich sein.

Letztlich begründet auch die UN-Behindertenrechtskonvention (UNBehRUbK) keine eigenständige Rechtsgrundlage auf Versorgung mit einem Hilfsmittel unabhängig von den Voraussetzungen nach § 33 SGB V (vgl. zur Auslegung und Anwendbarkeit: BSG, Urteil vom 6. März 2012 - Az.: B 1 KR 10/11, Rn. 17ff, nach juris). Dies gilt auch für Art. 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Ausdruck des Diskriminierungsverbots des Art. 5 der UNBehRUbK ist. Letzteres entspricht für die Leistungsbestimmungen der GKV im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Allerdings ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn Leistungen der GKV ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten dürfen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V vgl. BSG, Urteil vom 6. März 2012, Rn. 32ff, a.a.O.).

Schließlich kommt eine andere Entscheidung nicht deshalb in Betracht, weil das SG den PKH-Antrag am selben Tage abgelehnt hat, an dem es die Klage mit Gerichtsbescheid abgewiesen hat. Erfolgsaussichten der Klage bestanden weder zu diesem Zeitpunkt noch zu irgendeinem Zeitpunkt des Klageverfahrens davor. Im Übrigen wird ein Verfahrensmangel durch die Entscheidung des Beschwerdegerichts geheilt.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

Referenznummer:

R/R7497


Informationsstand: 13.02.2018