Kurzbeschreibung:
In dem Berufungsverfahren streiten die Beteiligten über die Anerkennung einer rentenrechtlichen Anrechnungszeit wegen schulischer Ausbildung. Der Kläger besuchte nach Vollendung des 17. Lebensjahres eine Tagesbildungsstätte, die in Niedersachsen den Besuch einer Sonderschule ersetzen kann. Die Beklagte - die Landesversicherungsanstalt - hält die Tagesbildungsstätte nicht für eine mit der Sonderschule vergleichbare schulische Einrichtung und lehnte bisher den Besuch einer Tagesbildungsstätte als rentenrechtliche Anrechnungszeit wegen schulischer Ausbildung ab.
Der hiergegen erhobenen Klage gab das SG Osnabrück statt. Die Berufung der Landesversicherungsanstalt blieb erfolglos.
Das LSG stellt fest, der Besuch einer Tagesbildungsstätte erfüllt die Voraussetzungen einer Anrechnungszeit im Sinne von § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI. Anrechnungszeiten sind danach Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht oder an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilgenommen haben. Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen sind nach § 59 Abs. 1 Satz 2 SGB VI - so führt das LSG aus - u.a. alle beruflichen Bildungsmaßnahmen, die der Vorbereitung einer Berufsausbildung oder der beruflichen Eingliederung dienen, aber auch allgemeinbildende Kurse zum Abbau von schwerwiegenden beruflichen Bildungsdefiziten. Als Schulausbildung - so das Gericht - sei in der Regel die Ausbildung an allgemeinbildenden öffentlichen oder privaten Schulen zu verstehen, durch die Zeit und Arbeitskraft des Schülers überwiegend beansprucht werde. Sofern die Ausbildung an einer sonstigen Bildungseinrichtung erfolge, stehe sie einer Schulausbildung gleich, wenn sie annähernd derjenigen entspreche, die Schüler an allgemeinbildenden Schulen vermittelt werde. Es komme nicht zwingend darauf an, dass die Schüler in zusammengefassten Klassenverbänden unterrichtet, regelmäßig Zeugnisse erteilt würden oder die Ausbildung nach einem staatlich genehmigten Lehrplan und mit staatlich zugelassenen Lehrkräften betrieben werde. Entscheidend für die Annahme einer Schulausbildung wie auch einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme sei eine wertende Gesamtbetrachtung, die sich vor allem am Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung orientiere. Sinn der Vorschriften über die Anrechnungszeiten sei es - so der Senat - einen rentenrechtlichen Ausgleich dafür zu schaffen, dass der Versicherte in Folge bestimmter, billigenswerter Umstände ohne Verschulden gehindert war, einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen und so Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung zu leisten. Bei der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen seien die Wertungen der übrigen Rechtsordnung, insbesondere diejenigen des höherrangigen Rechts zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die Rechtsstellung behinderter Menschen sei Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes zu beachten, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden dürfe. Dem spezifischen Schutz behinderter Kinder vor Benachteiligungen dienen schließlich auch die Verpflichtungen aus dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes, das in innerstaatliches Gesetzesrecht umgesetzt worden sei. Artikel 23 Abs. 3 dieses Übereinkommens sehe u.a. vor, dass die einem geistig oder körperlich behinderten Kind zu gewährende Unterstützung sicherzustellen sei, dass ihm Erziehung, Ausbildung und Vorbereitung auf das Berufsleben tatsächlich in einer Weise zugänglich seien, die seiner möglichst vollständigen sozialen Integration förderlich sei. Damit wäre es unvereinbar, Vergünstigungen (Anrechnungszeiten), die das Recht als Ausgleich für bestimmte Belastungen (hier: Absolvierung einer notwendigen Ausbildung) gewähre, nichtbehinderten Menschen vorzubehalten und behinderten Menschen in vergleichbarer Situation zu versagen.
Weiter führt das LSG aus, der vom Kläger absolvierte Besuch der Tagesbildungsstätte weise zur Überzeugung des Senats alle erforderlichen Merkmale einer Schulausbildung im Sinne von § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI auf. Der äußeren Form nach habe der Unterricht in klassenähnlichen Gruppen an fünf Tagen in der Woche bis jeweils ca. 15.00 Uhr stattgefunden. Damit sei Zeit und Arbeitskraft des Klägers überwiegend in Anspruch genommen worden. Die Unterrichtung sei nach einem bestimmten, zuvor aufgestellten Lehrplan erfolgt. Ständige Leistungskontrollen hätten nicht stattgefunden, jedoch seien zur Kontrolle des Lernfortschritts jährlich Entwicklungsberichte angefertigt worden.
Schließlich - so der Senat weiter - rechtfertige sich die Anerkennung als Schulausbildung auch aus der Entscheidung des niedersächsischen Gesetzgebers im Schulgesetz, Tagesbildungsstätten für geistig behinderte Kinder und Jugendliche als Einrichtungen anzuerkennen, in denen diese ihrer Schulpflicht genügen könnten. Lasse der niedersächsische Gesetzgeber daher den Besuch einer Tagesbildungsstätte für die Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht genügen, sprächen überwiegende Gründe dafür, auch in der Ausbildung an einer Tagesbildungsstätte einen Tatbestand zu sehen, der - wie ein "klassischer" Schulbesuch - einen rentenversicherungsrechtlichen Ausgleich für die während dieser Zeit unterbliebene Beitragszahlung rechtfertige.