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Urteil
Rücknahme einer Anmeldung für einen Förderlehrgang in einem Berufsbildungswerk - Berufsschulpflicht in Bremen - Teilnahme an einem Berufsvorbereitungslehrgang an einer berufsbildenden Schule

Gericht:

LSG Niedersachsen-Bremen 15. Senat


Aktenzeichen:

L 15 AL 14/03 ER


Urteil vom:

24.07.2003


Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 17. Juli 2003 wird zurückgewiesen.

Tatbestand:

Streitig ist eine einstweilige Anordnung zur Sicherung von Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben im Hinblick auf eine konkrete Maßnahme.

Die Vorgeschichte stellt sich nach dem Inhalt der Gerichtsakte - die Verwaltungsakte lag nicht vor - wie folgt dar: Die am 13. April 1986 geborene Antragstellerin beantragte nach vorheriger Beratung im Arbeitsamt im Dezember 2002 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bei der Antragsgegnerin. Entsprechend einer "Beratungs- und Vermittlungsniederschrift” wurden besondere berufsfördernde Leistungen gemäß §§ 102 ff. Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) für erforderlich gehalten und die Möglichkeit, das Ziel der Eingliederung durch Gewährung von Leistungen nach den allgemeinen Förderungsbestimmungen zu erreichen, verneint. Eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme sei notwendig, das Berufsbildungswerk geeignet und eine Internatsunterbringung erforderlich, u. a. wegen der täglichen An- und Abreise, die etwas über 1,5 Stunden dauere.

Entsprechend einer Verfügung vom 9. Dezember 2002 unter der Überschrift "Ersteingliederung/Anmeldung zur Reha-Maßnahme” bejahte die Antragsgegnerin die Voraussetzungen der §§ 19 und 97 f. SGB III und erstellte einen Eingliederungsvorschlag. Grundlage war ein beim Berufsbildungswerk Bremen vorgesehener einjähriger Förderungslehrgang ab Herbst 2003 mit Internatsunterbringung. Eine entsprechende Anmeldung erfolgte beim Maßnahmeträger mit Schreiben vom 12. Februar 2002.

Mit Schreiben vom 4. April 2003 teilte die Antragsgegnerin mit, dass sie die Anmeldung für den Förderlehrgang habe zurücknehmen müssen. Sie habe neue Weisungen erhalten, wonach die Berufsschulpflicht in Bremen Vorrang vor einem Eintritt in einen Lehrgang habe. Eine Aufnahme in einen vom Arbeitsamt finanzierten Lehrgang könne nur dann erwogen werden, wenn die Schulpflicht erfüllt sei. Die Antragstellerin wurde an die Allgemeine Berufsschule in Bremen verwiesen, um sich dort umgehend für ein schulisches Vorbereitungsjahr anzumelden und beraten zu lassen. Hintergrund war der vom Landesarbeitsamt (LAA) Niedersachsen-Bremen herausgegebene Rundbrief Nr. 7/2003 vom 14. Februar 2003, der im Hinblick auf beschränkte Haushaltsmittel zu einer restriktiveren Praxis aufforderte. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 19 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderungsgesetz - (SGB III) im Rahmen der Ersteingliederung sei eine Abgrenzung der Lernbeeinträchtigung von der Lernbehinderung zu beachten. Eine Behinderung sei in diesen Fällen nur bei klar erkennbarer Lernbehinderung mit erheblichem Förderbedarf zur Erreichung der Ausbildungs- und Berufsreife anzunehmen. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen sei in Zukunft generell für den Personenkreis der Ersteingliederung zur Erfüllung der Schulpflicht das BVJ (Berufsvorbereitungsjahr) der berufsbildenden Schulen zu nutzen. Ausnahmen würden nur zugelassen, wenn eindeutige behindertenspezifische Erfordernisse für die Nutzung eines Förderlehrgangs in einer reha-spezifischen Einrichtung vorlägen und definierte Obergrenzen für Fallzahlen nicht überschritten würden.

Gegen diesen Bescheid vom 4. April 2003 legte die Antragstellerin durch ihre Mutter Widerspruch ein. Diese machte geltend, beim Berufsbildungswerk erhalte ihre Tochter die optimale Förderung.

Am 13. Juni 2003 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht (SG) Bremen im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt, die Antragsgegnerin vorläufig zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Teilnahmekosten für den am 18. August 2003 beginnenden Förderlehrgang und Ausbildungsgeld) zu verpflichten. Sie hat geltend gemacht, unter einer Lernbehinderung und einer Sprachstörung zu leiden. Der Förderlehrgang beim Berufsbildungswerk in Bremen diene der Vorbereitung auf eine Berufsausbildung zur Beiköchin. Um an diesem Lehrgang teilnehmen zu können, benötige sie besondere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, auf die sie wegen ihrer Behinderung angewiesen sei. Die Wechselwirkungen zwischen Lern- und Sprachbehinderung führten dazu, dass sie individuelle pädagogische Förderung in kleinen Gruppen benötige, um Lernschritte zu erreichen. Größere Einheiten bedeuteten für sie Stress, der die sprachlichen Beeinträchtigungen verstärke und zu Blockaden führe. Ihr entsprechend beim Berufsbildungswerk angebotene Förderung sei für einen Eingliederungserfolg unerlässlich. In diesem Rahmen komme sie auch der Berufsschulpflicht nach. Die Antragsgegnerin, die zuvor die Notwendigkeit einer entsprechenden Förderung bejaht habe, habe keine tragfähigen Gründe für die jetzige andere Entscheidung vorgetragen. Ohne Leistungszusage sei es ihr nicht möglich, am Förderlehrgang teilzunehmen. Ihr sei ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten, da sie sonst erst wieder im August 2004 mit einer entsprechenden Maßnahme beginnen könne. Zur Glaubhaftmachung waren dem Antrag eidesstattliche Versicherungen der Mutter und des Vaters der Antragstellerin, jeweils vom 13. Juni 2003, beigefügt. Ebenso war beigefügt eine Bescheinigung der Logopädin E. vom 6. Mai 2003, in der aus therapeutischer Sicht Bedenken gegen eine Verweisung auf eine allgemeinbildende Berufsschule dargestellt werden, sowie eine sonderpädagogische Stellungnahme des Klassenlehrers F. aus dem Mai 2003, in der unter Darstellung der Schwierigkeiten der Antragstellerin in dem angestrebten Förderlehrgang große Chancen für die Erarbeitung der notwendigen Grundlagen einer dort ebenfalls angesiedelten Ausbildung gesehen werden. Die Antragstellerin hat weiterhin eine Bescheinigung der Bildungsbehörde über die Erfüllung der Berufsschulpflicht im Rahmen des angestrebten Förderlehrgangs vorgelegt.

Die Antragsgegnerin hat eine Erfolgsaussicht in der Hauptsache verneint und auf den zwischenzeitlich ergangenen Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2003 (liegt nicht vor) verwiesen.

Mit Beschluss vom 17. Juli 2003 hat das SG die Antragsgegnerin verpflichtet, die Antragstellerin bis spätestens zum 24. Juli 2003 zur Teilnahme an der Maßnahme ab August 2003 beim Maßnahmeträger anzumelden, nachdem der Maßnahmeträger in einer telefonischen Auskunft gegenüber dem Gericht dies als spätestmöglichen Anmeldungstermin genannt hatte. Eine Kostenentscheidung hat das SG noch nicht getroffen, da noch nicht vollständig über den Anordnungsantrag entschieden worden sei. Ohne die Anordnung bestehe die Gefahr, dass die Antragstellerin keinen Platz in der am 18. August 2003 beginnenden Maßnahme bekomme. Die Fördervoraussetzungen lägen - wie ursprünglich auch von der Antragsgegnerin gesehen - vor. Die Antragstellerin könne auch offensichtlich durch die Teilnahme am Förderunterricht ihrer Schulpflicht genügen. Deshalb sei ihr Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich.

Gegen diese ihr (nach eigenen Angaben) am 18. Juli 2003 zugestellte Entscheidung hat die Antragsgegnerin am 22. Juli 2003 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat. Ein Anordnungsanspruch sei nicht gegeben. Zwar liege bei der Antragstellerin lt. psychologischem Gutachten eine Lernbehinderung vor; Lernbeeinträchtigte seien jedoch nicht automatisch Behinderte im Sinne des § 19 SGB III. Aus der Feststellung, dass eine Behinderung vorliege, könne kein Anspruch auf eine bestimmte Förderleistung abgeleitet werden. Es sei vielmehr diejenige Hilfe zu realisieren, die im Einzelfall erforderlich sei, um beruflich eingegliedert zu werden. Die Auswahl einer notwendigen Leistung könne nicht ohne Berücksichtigung eines wirtschaftlichen Ressourceneinsatzes erfolgen. Bedauerlicherweise sei die Überprüfung im Hinblick darauf erst nach einer bereits erfolgten Förderüberlegung vorgenommen worden. Auslöser sei zwar die Anfang 2003 erfolgte Budgetierung im Bereich der besonderen Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben gewesen, jedoch sei das nicht der alleinige Maßstab gewesen, vielmehr sei nach sachgerechten Kriterien eine Maximalförderung als nicht notwendig eingeschätzt worden. Ausreichend seien als erster Schritt zur Teilhabe der Besuch einer berufsbildenden Schule, da diese bis zu einem bestimmten Grad in der Lage sei, ein behindertenangepasstes Angebot zu realisieren. Hier würden berufsorientierende Klassen speziell für Lernschwächere in einer Klassenstärke von 16 Schülern (statt beim Maßnahmeträger von 15 Schülern) angeboten. Ein ungleich aufwändigerer Förderlehrgang mit Internatsunterbringung werde nicht für behinderungsbedingt notwendig gehalten. Nach der Berufsschule könne ggf. im Rahmen einer erneuten psychologischen Begutachtung der aktuelle Entwicklungsstand erhoben werden, um die Notwendigkeit einer weitergehenden Förderung festzustellen. Eine darüber hinausgehende Förderung sei nach Art und Schwere der Behinderung nicht erforderlich.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 17. Juli 2003 aufzuheben und den Antrag abzulehnen,

hilfsweise,

den Vollzug gemäß § 175 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszusetzen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Auf den Inhalt ihres Schriftsatzes vom 23. Juli 2003 wird Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Vorsitzenden (§ 155 SGG) einverstanden erklärt.

Rechtsweg:

SG Bremen Urteil vom 17.07.2003 - S 17 AL 245/03 ER

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Antragsgegnerin in einer Teilentscheidung zunächst zur Anmeldung der Antragstellerin verpflichtet, weil andernfalls nach den gegebenen Umständen die Antragstellerin diese Maßnahme nicht mehr durchführen und an einer Folgemaßnahme erst wieder in einem Jahr teilnehmen könnte.

Es spricht vieles dafür, dass die Antragstellerin in der Hauptsache einen Anspruch auf Teilnahme an dieser Maßnahme hat. Anspruchsgrundlage ist § 97 SGB III, der die Erbringung entsprechender Leistungen für behinderte Menschen, wozu gemäß § 19 Abs. 1 ausdrücklich auch lernbehinderte Menschen gehören, vorsieht. Trotz der Formulierung des § 97 SGB III ("können”) handelt es sich bei besonderen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß § 3 Abs. 5 SGB III nicht um Ermessensleistungen. Nach § 102 Abs. 1 SGB III sind die besonderen Leistungen anstelle der allgemeinen Leistungen insbesondere zur Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung einschließlich Berufsvorbereitung ... zu erbringen, wenn

1. Art oder Schwere der Behinderung oder die Sicherung der Teilhabe am Arbeitsleben die Teilnahme an a) einer Maßnahme in einer besonderen Einrichtung für behinderte Menschen oder b) einer sonstigen auf die besonderen Bedürfnisse behinderter Menschen ausgerichteten Maßnahme unerlässlich machen oder 1. die allgemeinen Leistungen die wegen Art und Schwere der Behinderung erforderlichen Leistungen nicht oder nicht im erforderlichen Umfang vorsehen.

Für einen entsprechenden Anspruch spricht vorliegend schon das von der Antragsgegnerin in der Beschwerdeschrift erwähnte psychologische Gutachten, wonach eine Lernbehinderung besteht, wie es auch der anfänglichen Förderungsabsicht der Antragsgegnerin zugrunde gelegt worden ist. Des Weiteren sprechen dafür die erwähnten Stellungnahmen der Logopädin und des derzeitigen Klassenlehrers der Antragstellerin.

Angesichts dieser Sachgesichtspunkte überzeugt die aus Budgeterwägungen resultierende Neubewertung der Antragsgegnerin so nicht. Der im Rahmen von Ermessensentscheidungen möglicherweise sachgerechte Gesichtspunkt beschränkter Mittel kann bei einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, eine Ablehnung nicht tragen. Dass die Leistung nunmehr aufgrund der Behinderung nicht (mehr) erforderlich sein soll, hat die Antragsgegnerin nicht überzeugend dargelegt. Die Berufsschulpflicht kann auch innerhalb der angestrebten Maßnahme erfüllt werden. Aus der entsprechenden allgemeinen Regelung ist auch ersichtlich, dass eine bestehende Berufsschulpflicht nicht regelhaft Grund für die Ablehnung einer derartigen Maßnahme sein kann ...

Für eine Aussetzung der Vollziehung gemäß § 175 SGG im Sinne des Hilfsantrags der Antragsgegnerin ist bei einer - gerade auf Vollziehung gerichteten - einstweiligen Anordnung neben der Anfechtung der Anordnung selbst kein Raum.

Über die Kosten des Beschwerdeverfahrens wird das SG im Rahmen der abschließenden Entscheidung über den Eilantrag zu entscheiden haben.

Diese Entscheidung kann nicht angefochten werden (§ 177 SGG).

Referenznummer:

R/R4712


Informationsstand: 04.08.2010