Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 und 151 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig und auch insoweit begründet, als sie in der mündlichen Verhandlung vom 09.10.2007 aufrecht erhalten worden ist. Der Kläger ist erheblich gehbehindert im Sinne von
§ 146 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (
SGB IX). Das Merkzeichen "B" im Sinne von § 146
Abs.2
SGB IX steht jedoch nicht zu.
Menschen sind gemäß
§ 2 Abs.1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Geselltschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Menschen sind gemäß § 2
Abs.2
SGB IX im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein
GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des
§ 73 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den
GdB fest. Das KOV-VfG ist entsprechend anzuwenden, soweit nicht das
SGB X Anwendung findet. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als
GdB nach 10-er Graden abgestuft festgestellt. Die im Rahmen des § 30
Abs.1 BVG festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein
GdB von wenigstens 20 vorliegt (
§ 69 Abs.1 SGB IX).
Die eingangs zitierten Rechtsnormen werden durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996
bzw. 2004 und 2005" ausgefüllt. Wenngleich diese Verwaltungsvorschriften, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, für das Gericht nicht zwingend bindend sind, werden sie dennoch regelmäßig zur Gesetzesauslegung und als wertvolle Entscheidungshilfe herangezogen. Das Gebot der Gleichbehandlung, wie es in
Art.3
Abs.1 des Grundgesetzes (
GG) normiert ist, erfordert es auch in diesem Fall, keinen anderen Bewertungsmaßstab als den üblichen anzulegen (
vgl. Urteil des 9a Senats des
BSG vom 29.08.1990 -
9a/9 RVs 7/89 in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1991,
S.227
ff. zu "Anhaltspunkte 1983").
Mit Urteilen vom 23.06.1993 - 9a/9 RVs 1/91 und 9a/9 RVs 5/92 (ersteres publiziert in BSGE 72, 285 = MDR 1994
S.78, 79) hat das
BSG wiederholt dargelegt, dass den "Anhaltspunkten 1983" keine Normqualität zukommt; es handelt sich nur um antizipierte Sachverständigengutachten. Sie wirken sich in der Praxis der Versorgungsverwaltung jedoch normähnlich aus. Ihre Überprüfung durch die Gerichte muss dieser Zwitterstellung Rechnung tragen. Die "Anhaltspunkte 1983" haben sich normähnlich entwickelt nach Art der untergesetzlichen Normen, die von sachverständigen Gremien kraft Sachnähe und Kompetenz gesetzt werden.
Allerdings fehlt es insoweit an der erforderlichen Ermächtigungsnorm sowie an klaren gesetzlichen Vorgaben und der parlamentarischen Verantwortung hinsichtlich der Besetzung des Gremiums sowie der für Normen maßgeblichen Veröffentlichung. Hinsichtlich der richterlichen Kontrolle der "Anhaltspunkte 1983" ergeben sich Besonderheiten, ungeachtet der Rechtsqualität der "Anhaltspunkte 1983". Sie sind vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben zu messen. Sie können nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden; die Gerichte sind insoweit prinzipiell auf eine Evidenzkontrolle beschränkt. Eine solche eingeschränkte Kontrolldichte wird in der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Regelungsbereiches und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber begründet (
vgl. Papier, DÖV 1986,
S.621
ff. und in Festschrift für Ule, 1987,
S.235
ff.). Eine solche Beschränkung in der gerichtlichen Kontrolle ist auch für die "Anhaltspunkte 1983" geboten, weil sonst der Zweck der gleichmäßigen Behandlung aller Behinderten in Frage gestellt würde.
Das Bundesverfassungsgericht (
BVerfG) hat mit Beschluss vom 06.03.1995 -
1 BvR 60/95 (
vgl. NJW 1995,
S. 3049, 3050) die Beachtlichkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983" im verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren als "antizipierte Sachverständigengutachten" bestätigt. Der in
Art.3 des Grundgesetzes (
GG) normierte allgemeine Gleichheitssatz gewährleistet innerhalb des § 3
SchwbG nur dann eine entsprechende Rechtsanwendung, wenn bei der Beurteilung der verschiedenen Behinderungen regelmäßig gleiche Maßstäbe zur Anwendung kommen. Entsprechendes gilt auch für die neu gefassten "Anhaltspunkte 1996", die die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse und Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen, die Rechtsprechung des
BSG, zwischenzeitliche Änderungen der Rechtsgrundlagen sowie Erfahrungen bei der Anwendung der bisherigen "Anhaltspunkte 1983" eingearbeitet haben (
BSG mit Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/03 R in SGb 2004
S.378)
bzw. nunmehr die "Anhaltspunkte 2004 und 2005".
Ergänzend ist auf § 48 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren (
SGB X) hinzuweisen: Soweit in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.
Hiervon ausgehend hat der gerichtlich bestellte Sachverständige W. M. mit fachinternistischem Gutachten vom 22.04.2007 schlüssig und überzeugend den höchstmöglichen Gesamt-
GdB von 100 bestätigt. Weit im Vordergrund der Funktionsstörungen steht die dialysepflichtige Nierenfunktionsbeeinträchtigung bei Zustand nach Entfernung der rechten Niere und des Harnleiters bei maligner Erkrankung mit einem Einzel-
GdB von 100. Die weiteren Funktionsstörungen "rezidivierendes Zwölffingerdarmgeschwürsleiden bei Zustand nach Teilentfernung des Magens und immer wieder auftretender Refluxoesophagitis", "depressive Verstimmung", "rezidivierendes Lendenwirbelsäulen-Syndrom" und "Sehminderung beidseits" hat der gerichtlich bestellte Sachverständige wie der Beklagte mit Einzel-
GdB-Werten von 20, 30, 20 und 10 berücksichtigt. Zusammenfassend hebt W. M. auf
S.21 seines Gutachtens vom 22.04.2007 hervor, dass in den dem Bescheid vom 21.03.2002 zugrunde liegenden Verhältnissen eine leichte Verschlechterung des Gesundheitszustandes und seiner Einwirkung auf die Funktionsbeeinträchtigungen eingetreten ist. Bei dem Kläger besteht aufgrund einer terminalen Niereninsuffizienz in Verbindung mit einer periphären motorischen und sensorischen Polyneuropathie eine erhebliche Gehbehinderung in Übereinstimmung mit dem Votum von
Dr.W. Z. vom 28.10.2003. Dementsprechend hat die Bevollmächtigte des Beklagten die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 04.01.2007 hinsichtlich des Merkzeichens "G" in der mündlichen Verhandlung vom 09.10.2007 zurückgenommen.
Entgegen dem Votum von
Dr.W. Z. mit erstinstanzlichem Gutachten vom 28.10.2003 und und in Übereinstimmung mit der versorgungsärztlich-internistischen Stellungnahme von
Dr.P. vom 30.05.2007 sowie W. M. mit Gutachten vom 22.04.2007 steht dem Kläger das Merkzeichen "B" im Sinne von
§ 146 Abs.2 SGB IX jedoch nicht zu.
Unmissverständlich hat der gerichtlich bestellte Sachverständige W. M. darauf hingewiesen, dass nach dem Ergebnis der gerichtsärztlichen Untersuchung vom 20.04.2007 der Kläger durchaus in der Lage ist, auch ohne Hilfe seiner Gattin
bzw. einer Begleitperson mit entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen ein öffentliches Verkehrsmittel zu betreten. Dies werde mit Sicherheit nicht in einem heute üblich gewordenen Tempo und Schwierigkeitsstandard geschehen, dennnoch sei es auch ohne Hilfe der Ehefrau durchaus möglich, sich entsprechend fortzubewegen. Hier habe sich im Rahmen der ehelichen Zusammenarbeit ein System eingespielt, das durchaus eine Voraussetzung für die gegenseitige Hilfe als Basis heranziehe. Diese sei jedoch nach den geltenden Kriterien hinsichtlich des Merkzeichens "B" nicht zwingend notwendig.
Dementsprechend ist auch für das Bayer. Landessozialgericht schlüssig und überzeugend dargelegt, dass der Kläger nicht "ständig" auf die Hilfe einer Begleitperson im Sinne von § 146
Abs.2
SGB IX angewiesen ist. Der Käger muss vor allem auf dem Weg zur Dialyse und zurück regelmäßig begleitet werden, sei es durch seine Gattin, eine andere Begleitperson oder in Form der Benutzung eines Taxis. Diese insoweit regelmäßig notwendige Begleitung steht der Notwendigkeit einer "ständigen" Begleitung nicht gleich, wie sie in
§ 146 Abs.2 SGB IX gefordert wird.
Nach alledem ist der Berufung des Beklagten insoweit stattzugeben, als sie noch aufrecht erhalten worden ist.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193
SGG, und berücksichtigt das teilweise Obsiegen
bzw. Unterliegen beider Parteien im Rahmen des Gesamtverfahrens.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160
Abs.2 Nrn.1 und 2
SGG).